„Rettungskräfte verstehen sehr gut, was sich in einer Stadt verändert, gerade unter ihren vulnerabelsten Bewohner:innen.“

Daniela Krüger, Foto: Falk Weiß

Daniela Krüger

In meiner Dissertation beschäftige ich mich mit der Notfallversorgung in der Stadt. Ich bin auf das Thema gekommen, als ich für ein Forschungsprojekt über Sicherheitsplanung Interviews mit Rettungskräften in zwei deutschen Großstädten geführt habe. Sie berichteten, dass sie immer häufiger zu Einsätzen gerufen werden und dass es sich bei vielen Einsätzen gar nicht um medizinische Notfälle handelt. Das ist aber das eigentliche Mandat der Rettungsdienste.

Dahinter stecken häufig nicht-akute, chronische gesundheitliche oder auch soziale Probleme. Es sind zum Beispiel Personen, die Drogen oder übermäßig Alkohol konsumieren oder alte Menschen, die Schwierigkeiten haben sich mit den alltäglichsten Dingen zu versorgen: Essen, Trinken oder Bewegung. Der demografische Wandel spielt in diese Entwicklung ganz immens rein. Das „goldene Alter“ wie es in der Öffentlichkeit häufig suggeriert wird, das gibt es oft nicht. Viele Menschen werden in Armut alt und wohnen allein. Und manche scheuen sich, in der Familie oder Nachbarschaft um Hilfe zu bitten, aus Scham oder weil sie davon ausgehen, dass eine Gegenleistung erwartet wird.

Die Tatsache, dass es diesen Anstieg an Einsätzen gibt und diesen „mismatch“ zwischen Mandat und Alltagspraxis fand ich sehr spannend. Ich habe das als empirisches Rätsel genommen, anhand dessen sich grundsätzlicher über Fürsorge und die Organisation von Gesundheitsversorgung in der Stadt nachdenken lässt. Um dem nachzugehen, bin ich bei Rettungseinsätzen mitgefahren, habe mit den Menschen gesprochen, die im Rettungsdienst und in der Notfallaufnahme im Krankenhaus arbeiten und dort behandelt werden. Als Abgleich zu dem, was mir die Menschen dort erzählen, habe ich außerdem Interviews mit Hausärzt:innen und Fachärzt:innen geführt und im Rahmen des Projekts „Die Welt in meiner Straße – Ressourcen und Netzwerke von Stadtbewohner/-innen“ an einer repräsentativen Umfrage mitgewirkt, bei der Menschen gefragt wurden, was sie tun, wenn sie krank sind – wohin sie gehen und was ihnen dabei wichtig ist. Ich ziehe auch Statistiken heran, die Auskunft über die medizinische Versorgung in Deutschland geben und über Veränderungen des Gesundheitssystems. Leider enthalten diese Versorgungsdaten in Deutschland häufig keine Informationen über den sozialen Kontext von Patient:innen. Deshalb waren die Interviews mit ihnen so wichtig. Denn die Theorie sagt: Die sozialen Kontexte von Menschen haben Einfluss darauf, wie gesund oder krank Menschen sind, aber auch, wie sie ihre Gesundheitsversorgung organisieren beziehungsweise organisieren können. Da kann es Barrieren geben wie fehlenden Krankenversicherungsschutz, knappe Zeitressourcen aber auch Misstrauen gegenüber Ärztinnen aufgrund früherer Behandlungen. Menschen ziehen dann weiter und suchen nach einer vertrauensvollen Behandlungsbeziehung.

Mich interessieren einerseits die sogenannten nichtmedizinischen Notfälle und andererseits die gesellschaftlichen Diagnosen, die die Rettungskräfte, Ärzt:innen und Pflegekräfte in Notaufnahmen stellen. Sie verstehen durch ihre Tätigkeit nämlich sehr gut, was in der Stadt los ist und was sich verändert, gerade auch unter ihren vulnerabelsten Bewohner:innen. Sie sehen, „was nicht läuft“ und warum manche Menschen den Notruf wählen oder in die Notaufnahme kommen, obwohl sie streng genommen nicht in die Kategorie „Notfall“ fallen.

In den Interviews und Gesprächen haben sie beispielsweise über die Mechanismen des Gesundheitssystems und der Notfallmedizin gesprochen. Die Notfallversorgung ist niedrigschwellig organisiert, um Leben retten zu können. Genau dadurch aber wird sie auch schnell zum Sicherheitsnetz für weitere Fälle von Not. Beschrieben wurde auch, dass ambulante Versorgungsangebote manchmal so knapp seien, dass Menschen auf die Notfallmedizin zurückgreifen. Patient:innen etwa, die über längere Zeit Schmerzen hatten und verunsichert waren, aber über Wochen keine Facharzttermine bekommen haben, die sind dann in die Notaufnahmen gekommen. Sie wurden dort auch untersucht. Wenn aber festgestellt wird, dass es sich nicht um einen Notfall handelt, werden sie wieder nach Hause geschickt. Und das empfinden manche Patient:innen als Abwertung ihres Leids. In der Soziologie gibt es dafür den Begriff der symbolischen Gewalt. Davon sind auch die Mitarbeitenden in der Notaufnahme und im Rettungsdienst betroffen. Die sind für den medizinischen Notfall ausgebildet. Wenn aber ständig Notrufe eingehen, die gar nicht dazu passen, nehmen viele das als Abwertung ihrer Profession und ihrer Arbeit wahr.

Dahinter steckt auch die Frage, wie medizinische Versorgung verstanden wird. Wir haben im Laufe der Zeit den sozialen Kontext von Gesundheit und Krankheit abgespalten. Langsam setzt aber ein Umdenken ein. Die Perspektive von Public Health, die die sozialen Kontexte von Patient:innen mit einbezieht, wird wichtiger und das spiegelt sich auch in Versorgungsmodellen wider. So hat die Feuerwehr in Kopenhagen zum Beispiel das Sociolance-Mobil eingeführt, das an den Rettungsdienst angegliedert ist, aber andere Hilfen anbietet wie zum Beispiel psychosoziale Beratung.

Nach mehr als 37 Einzel- und Gruppeninterviews mit den Professionellen, mehr als 70 Interviews mit Patient:innen und etwa 300 Stunden im Feld, bin ich jetzt in der Schreibphase. Das ist der herausforderndste Teil der Arbeit. Es geht darum, die Dilemma-Situationen darzustellen, allen Befragten eine Stimme zu geben und die Logik jeder einzelnen Stimme herauszuarbeiten – das ist mein Job.

Die Notfallversorgung ist ein sehr komplexes und so spannendes Thema. Es war mir auch wichtig ein Thema zu wählen, das nah am Leben dran ist. Denn oft lautet der Vorwurf ja, Soziologie sei so theoretisch. Als Soziologin ist für mich interessant, wie das Fach dazu beitragen kann, zu hinterfragen, wie wir unsere Gesundheitsversorgung organisieren. Gleichzeitig interessiert mich, was wir aus dem Alltag der Menschen für die Theorie lernen können. Wie bilden und verändern sich Klassifizierungen und Kategorien – wie „der Notfall“ – und damit was wir unter Not und Hilfe verstehen? Was bedeutet das für Professionen, Patient:innen aber auch das Zusammenleben und die Versorgung von Menschen in der Stadt?

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